Parentifizierung – wenn du als Kind zu viel Verantwortung tragen musstest

Definition und Verständnis von „Parentifizierung“

Ich bin kein Fan des Begriffs „Parentifizierung“. Ich verstehe ihn, verwende ihn aber selten, da ich „Parentifizierung“ wie einen Stempel und etwas ganz Großes empfinde. Wenn ich den Begriff im Internet suche, dann wird Parentifizierung damit beschrieben, dass es eine Rollenumkehr zwischen mindestens einem Elternteil und dem Kind gab. Dass das Kind also die Rolle des Elternteils im eigenen System übernehmen musste. Natürlich trifft diese Rollenumkehr für einzelne Kinder zu. Zum Beispiel, wenn sich die Eltern trennen, ein Elternteil verstirbt oder erkrankt oder beide Eltern viel arbeiten müssen. Meist rutscht das Kind dann in eine Art Partnerersatz oder übernimmt die Elternrolle für die jüngeren Geschwister. Aber dass ein Kind tatsächlich so große und umfassende Aufgaben übernehmen muss, ist nicht so häufig wie die Verantwortungsübernahme in einzelnen Teilbereichen wie zum Beispiel der emotionalen Verfassung eines Elternteils. 

Gemeint ist doch eigentlich, dass die Eltern deiner Kindheit in einzelnen Bereichen keine Verantwortung übernehmen konnten. Und dies hatte Auswirkungen auf dich als Kind, die unterschiedlich groß sein können. Manchmal waren es kleine Momente, einzelne Situationen, Bereiche oder Zeitabschnitte, in denen das Kind mehr Verantwortung übernehmen, als für das Kind gesund gewesen wäre. Aber ist es dann gleich eine Parentifizierung? Deswegen arbeite ich lieber mit dem Begriff „Verantwortungsübernahme“ in der Kindheit und im Erwachsenenalter. 

Das Thema „Verantwortungsübernahme“ spielt in der Paartherapie und Beziehungsberatung eine große Rolle. Sei es, wenn es um Haushalt, Kinder, Finanzen etc. geht. Immer wieder kommt bei mir in der Praxis die Frage auf: „Wer muss wie viel Verantwortung für welchen Bereich übernehmen?“. 

Meistens treffen in der Partnerschaft zwei verschiedene Extreme aufeinander:

Die Einen, die die Verantwortung zu sich ziehen, sich für alles verantwortlich fühlen und häufig komplett überfordert sind. Diese Menschen sind häufig die „Leader“ in der Beziehung, geben den Ton an, weisen die Richtung.

Die Anderen neigen dazu, die Verantwortung (unterbewusst) wegzuschieben, Verantwortungsübernahme hinauszuzögern, sich eher anzupassen und zu folgen. 

Wichtig ist, dass beide Partner zu dieser Beziehungsdynamik beitragen. Doch wie entstehen diese Muster in unserer Kindheit? 

Mögliche Ursachen für die Überforderung von Kindern durch die Eltern

Die häufigste Art der „Parentifizierung“, die mir in meiner Praxis begegnet, ist die „emotionale Parentifizierung“. Das bedeutet, dass das Kind verantwortlich war oder verantwortlich gemacht wurde für die emotionale Verfassung und Stabilität eines oder beider Elternteile. Dabei gibt es nicht „die eine Situation“, die zutreffen muss. Im Gegenteil läuft diese Art der Verantwortungsabgabe der Erwachsenen ganz subtil und unterschwellig ab. Die Familien wirken von außen häufig sehr harmonisch, stabil und glücklich. Die Kinder, die die Verantwortung für die emotionale Ebene der Eltern übernehmen, werden als zuvorkommend, mitdenkend und rücksichtsvoll wahrgenommen. Sie fallen in der Schule nicht negativ auf. Im Gegenteil sind diese Kinder und Jugendlichen häufig diejenigen, die auch im schulischen und privaten Kontext Verantwortung übernehmen, ehrenamtlich tätig sind, Schulsprecher werden, Abiturfeiern organisieren, etc. Nicht selten sind es genau die „Vorzeige-Kinder“, die sich Eltern wünschen. Die Auswirkungen von diesem Muster zeigt sich leider erst viel später – nämlich dann, wenn diese Kinder erwachsen sind und selbst eine Beziehung führen. Dazu später aber mehr.

Was machen die Eltern von emotional verantwortlichen Kindern also, damit diese Kinder das Muster „Verantwortungsübernahme“ überhaupt entwickeln? Folgende Situationen können dazu beitragen:

  • Wenn du nicht da warst, hattest du das Gefühl, deine Mutter/dein Vater fühlt sich allein. Vielleicht war sie/er das auch tatsächlich. Du wolltest nicht, dass sie/er sich so fühlt.
  • Wenn deine Mutter/dein Vater laut wurde/geschimpft hat etc. wurdest du verantwortlich gemacht (Bsp. „deinetwegen muss ich jetzt laut werden!“).
  • Wenn deine Mutter/dein Vater traurig war, hast du sie getröstet.
  • Wenn deine Eltern Streit hatten, hast du dich vor einen der beiden gestellt und diesen verteidigt.
  • Wenn deine Mutter/dein Vater wütend war, wurdest du dafür verantwortlich gemacht.
  • Wenn du nicht gehört hast, warst du daran schuld, dass deine Mutter/dein Vater gestresst waren etc.
  • Deine Eltern waren grundsätzlich nicht sehr (emotional) belastbar und du hast versucht, ihnen so viel Stress/Arbeit wie möglich abzunehmen.
  • Deine Eltern waren generell nicht sehr (emotional) belastbar und du warst ein liebes und braves Kind, weil du deine Mutter/deinen Vater nicht noch zusätzlich belasten wolltest. Dies ist auch in der Pubertät beobachtbar, da häufig keine Abgrenzung von den Eltern stattfindet.
  • Deine Mutter/dein Vater waren gesundheitlich immer (wieder) angeschlagen und nicht belastbar. Dadurch hast du immer Rücksicht nehmen müssen (Bsp. „Sei nicht so laut, mein Kopf tut weh/ich bin müde/mir geht’s nicht gut!“)

Das sind nur ein paar Beispiele und Situationen, in denen das Kind das Gefühl hatte, verantwortlich für die emotionale Befindlichkeit des Elternteils verantwortlich zu sein. In diesen Situationen war das Kind der Retter der Mutter/des Vaters, da diese/r sich in der Opferrolle befunden hat.

Täter-Opfer-Retter-Dreieck in der Eltern-Kind-Beziehung

Opferrolle bedeutet, dass die Person in diesem Moment keine Verantwortung für die eigenen Gefühle und/oder Handlungen übernommen hat. Wenn das Kind die Aufgabe „gut“ gemacht hat, wurde es zum Retter, wenn nicht, dann war es der „Täter“. Das Opfer ist immer das mächtigste Glied in einem System. Es bestimmt, wer gut ist (Retter) und wer schlecht ist (Täter). Wichtig dabei ist, dass es nicht automatisch so sein muss, dass dies für alle Bereiche im Familiensystem gilt. Manchmal ist der Elternteil auch nur in einem Bereich (bspw. auf der emotionalen Ebene) in der Opferhaltung. In allen anderen Bereichen hat die Mutter/der Vater kein Problem, Verantwortung zu übernehmen. 

Das fatale dabei ist, dass jedes Kind alles dafür machen wird, dass es der Mutter/dem Vater gut geht. Wenn die Mutter/der Vater also das Kind für die eigene Emotion, wie zum Beispiel Wut, verantwortlich macht, wird das Kind alles in seiner Macht Stehende machen, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Ziel ist es, dass die Mutter/der Vater glücklich und nicht mehr wütend ist. So arbeiten sich manche Kinder ihre ganze Kindheit ab, um die Eltern glücklich und zufrieden zu machen. Und dabei scheitern sie … immer und immer wieder. Und werden dadurch zu Opfern des Unvermögens der Eltern.

Wie zeigen sich die Spätfolgen der Parentifizierung in der Partnerschaft

Ich habe zu Beginn des Artikels beschrieben, dass sich meist zwei Extreme in einer Partnerschaft wiederfinden. Der eine Part, der die eigenen Bedürfnisse hinten anstellt, gerne die Verantwortung abgibt und in die (Über-) Anpassung geht. Der andere Part, der die Verantwortung zu sich zieht und sich im Beziehungskontext und im Familiensystem für alles verantwortlich fühlt.

Interessanterweise können beide aus einer ähnlichen Herkunftskonstellation kommen. Kinder, die mit einem oder beiden Elternteilen in der Opferhaltung aufgewachsen sind, entscheiden sich überwiegend in der Pubertät für eine „Seite“. Da der Bereich emotionale Verantwortungsübernahme durch Kinder am stärksten vertreten ist, konzentriere ich mich im Weiteren auf diesen Bereich. 

Folgende Typen treffe ich in der Praxis am häufigsten an:

  • Der Von-sich-Wegschieber: Weil das Kind zu viel Verantwortung in der Kindheit tragen musste, entscheidet sich der Jugendliche, ab sofort alle emotionale Verantwortung von sich zu schieben. Es ist so, als wäre das Fass „emotionale Verantwortung“ durch die Kindheit voll und kann keinen weiteren Tropfen Verantwortung nehmen. Diese Jugendlichen verbleiben im emotionalen Bereich ebenfalls in der Opferhaltung. Sätze, die diese Erwachsenen gerne sagen sind: „Wegen dir…“, „Ich kann dafür nichts!“, „Du bist schuld, dass…“, „Ich kann nichts machen!“, „Dafür kann ich nichts!“, „Klar habe ich auch was dazu beigetragen. Aber du…“. Häufig sind diese Erwachsenen im beruflichen Kontext erfolgreich, übernehmen viel Verantwortung, befinden sich in Führungspositionen. Zu Hause geben die dem Partner für alles die Schuld und übernehmen für keine ihrer Handlungen oder Emotionen die Verantwortung. Sie sind genau wie die eigenen Eltern geworden. Sie haben das Muster also einfach übernommen. 
  • Der Angepasste: Dieser Jugendliche hat beschlossen, die Strategien des Kindes weiterzuverfolgen. Meistens haben diese Jugendlichen keine nennenswerte Pubertät erlebt. Das Glück und die Zufriedenheit von Mama und Papa stehen weiterhin im Zentrum der Aufmerksamkeit. In Beziehung wird lediglich die Mutter oder der Vater gegen den Partner ausgetauscht. Diese Erwachsenen fühlen sich immer schuldig, suchen die Fehler bei sich, versuchen dem Partner zu genügen, überdenken ihr Verhalten und versuchen ihr Verhalten so anzupassen, dass der Partner bzw. Mama/Papa endlich zufrieden sind. Diese Menschen haben Probleme ihren eigenen Standpunkt zu finden oder diesen zu vertreten. Die Angst, dass sich der Partner von ihnen abwendet bzw. Mama/Papa sie nicht mehr lieb haben, steuert das Handeln. Sie haben keinen oder nur sehr schweren Zugang zu den eigenen Bedürfnissen und Grenzen und akzeptieren deren Nichtbeachtung oder Überschreitung. Immerhin sind sie dieses Verhalten ja von den Eltern gewohnt. Und von denen wurden sie ja auch geliebt. Frustrierend für diese Menschen ist, dass sie nie das Ziel erreichen werden, den Partner gänzlich zufrieden und glücklich zu machen. Da der Partner nicht die Mutter/der Vater ist. Zusätzlich erwarten sie, dass der Partner ihre Bemühung sieht und diese wertschätzt. In Partnerschaften sagen diese Menschen zum Beispiel: „Ich habe doch alles für dich getan. Aber du siehst/hörst mich nicht!“, „Ich weiß nicht, was ich noch machen soll, damit du endlich zufrieden bist!“, „Ich opfere alles für uns/unsere Familie und du bist immer nur weg!“.
  • Der Verantwortungs-Magnet: Dieses Kind hat im Laufe seiner Kindheit und Jugend festgestellt, dass es mit der Übernahme von Verantwortung Erfolg erzielt. Dies kann sowohl im familiären als auch im privaten oder schulischen Kontext sein. Durch die erfahrene Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit hat sich das Kind bzw. der Jugendliche nicht mehr hilf- und machtlos gefühlt. Diese Erwachsenen wirken häufig dominant oder zielstrebig, da sie meist ganz genau wissen, was sie möchten oder gut für die Menschen in ihrer Umgebung ist. Sie tendieren unbewusst zu grenzüberschreitendem Verhalten, sowohl bei anderen als auch bei sich selbst. Diese Erwachsenen haben größtenteils eine extrem hohe Belastbarkeit und neigen zur eigenen Überforderung. Allerdings zeigen sie dieses Verhalten immer in guter Absicht. Immerhin können sie so ihre Liebe und Zuneigung zeigen – so wie sie ihre Liebe durch die eigene Grenzüberschreitung den Eltern gezeigt haben. Sie sind gebende Personen, die so weit über ihre eigenen Grenzen gehen, bis sie kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Dann schreien sie um Hilfe oder machen den Menschen in ihrem Umfeld Vorwürfe. Sie fühlen sich dann alleingelassen und im Stich gelassen. Nicht gesehen in ihren Bemühungen und ihrem Tun. Dabei verkauft sich der Verantwortung-Magnet vorwiegend als Retter. Wenn er aber ehrlich hinschaut, bemerkt er schnell, dass er all sein Tun aus egoistischen Gründen macht: um dem unguten Gefühl der Handlungsunfähigkeit zu entfliehen. 

Was verbindet all diese drei Typen? Alle drei handeln in Abhängigkeit von ihrer Kindheit und ihren Eltern und sie nutzen den Partner zur Aufarbeitung ihrer Kindheitsthemen. All diese Menschen sind nicht frei in ihren Handlungen und ihrer Beziehung. 

Wie finden diese drei Typen in Beziehungen zusammen?

Klar ist auf jeden Fall, dass niemals die gleichen Typen zusammenfinden. Ein Verantwortungs-Magnet wird nicht mit einem anderen Verantwortung-Magneten zusammenbleiben. Die beiden Partner würden um die Verantwortung kämpfen.

Genauso wenig wird ein Von-sich-Webschieber mit einem Von-sich Wegschieber liiert sein wird. Wer würde dann die Verantwortung übernehmen?

Gleiches gesinnt sich hier nicht gerne zu Gleichem. Warum? Jeder dieser drei Typen übernimmt die jeweilige Rolle auch aus egoistischen Gründen. Extrem gesprochen: Es geht immer um das Überleben. Im Umgang von Eltern und Kind hat das Kind durch seine Strategien seine Zugehörigkeit im System, und damit auch sein Überleben, gesichert. Im kindlichen Gedankenkontext hat sich das Kind durch seine Handlungen einen „Wert“ erschaffen. Das Kind wurde „wertvoll“ für das System und die Eltern.  

Wenn der Erwachsene jetzt in der Beziehung eine der drei oben genannten Verhaltensweisen zeigt, dann macht er dies weniger für seinen Partner, sondern eher um das eigene Überleben zu sichern, sich wertvoll zu fühlen oder beides gleichzeitig. 

In der Regel trifft ein Verantwortungs-Magnet auf einen der beiden anderen Typen. Diese Kombination begegnet mir in meiner Praxis am häufigsten. Wichtig hierbei ist aber noch, dass ein Von-sich-Wegschieber nicht in allen Bereichen der Beziehung diesem Typ entsprechen muss. Manchmal wechseln sich die Typen bei verschiedenen Themenbereichen ab. Etwa Kinder und Haushalt vs. Finanzen und Handwerk. Ich kann in dem einen Bereich ein Verantwortungs-Magnet und in dem anderen Bereich ein Von-mir-Wegschieber sein. 

Mögliche Lösungen und Umgangsweisen in der Beziehung

Doch ist das nicht „normal“, dass sich Partner in der Beziehung die Verantwortung teilen? Ja und nein. Die Frage ist für mich nicht, ob die Verantwortung aufgeteilt wird, sondern wie das geschieht. Und hier gibt es riesige Unterschiede, die auch unterschiedliche Auswirkungen auf das eigene Wohl und die Beziehung haben. 

Ich möchte das Ganze plakativ am Beispiel „Kinderbetreuung und -erziehung“ veranschaulichen:

Nehmen wir eine Familie mit zwei Kindern, beide unter 6 Jahre alt. Er arbeitet Vollzeit 40 Stunden, sie arbeitet Teilzeit 20 Stunden. Die Familie hat ein Haus oder eine große Wohnung, die Kinder haben einzelne Aktivitäten in der Freizeit. Allein aus der Verteilung der Arbeitszeit ergibt sich automatisch, dass die Frau mehr Zeit für die Kinder(-betreuung) hat und diese federführend übernehmen wird. Allein diese Tatsche führt noch nicht zu Problemen in der Beziehung. 

Problematisch wird es meist dann, wenn der Mann sich überhaupt nicht für die Kinder verantwortlich fühlt – auch nicht abends oder am Wochenende. Was meine ich mit „verantwortlich fühlen“? Hiermit meine ich, dass der Mann nicht nur das macht, was die Frau ihm sagt, sondern genauso gut Bescheid weiß, was die Kinder zu welchem Zeitpunkt benötigen und machen wie die Frau. Das Anstrengende dabei, wenn einer die alleinige Verantwortung trägt, ist das „Mitdenken“. In unserem Beispiel denkt die Frau für sich und für alle Bedürfnisse der beiden Kinder mit. Der Mann unterstützt, wenn die Frau ihm sagt, was er wann wie zu machen hat. Dadurch denkt der Mann nicht mit, sondern lässt die Frau mit der Verantwortung allein. Das ist ein großer Unterschied, den viele Paare zu Beginn einer Therapie nicht verstehen. Der Partner mit weniger Verantwortung sagt dann: „Aber ich mache doch alles, was sie/er mir sagt!“. Und das ist genau das Problem. 

Wie kommt es zu dieser Dynamik?

Meistens fühlen sich die Partner in solchen Situationen nicht gesehen und unfair behandelt. Beide Partner versuchen aus ihren kindlichen Mustern heraus das Beste und das Richtige zu machen. Und beide sind dann irritiert, dass es nicht funktioniert. Wichtig ist: Beide Partner tragen zu dieser Dynamik bei! 

Ich erkläre es meinen Paaren immer so: jede Beziehung hat einen Topf „Verantwortung Kinder“. Dieser Topf kann nur zu 100 % gefüllt werden und muss auch immer zu 100 % gefüllt sein. Bei 101 % läuft der Topf über.

Wenn jetzt ein Verantwortungs-Magnet 100 % der Verantwortung an sich reißt, bleibt für den anderen kein Raum mehr übrig, um Verantwortung zu übernehmen. Das bedeutet, der Partner kann erst Verantwortung für die Kindererziehung übernehmen, wenn der andere bereit ist, etwas abzugeben. Für den Verantwortungs-Magneten kann dies tatsächlich aus seinen Mustern heraus herausfordernd sein. Themen wie Kontrollverlust, Perfektionismus etc. können sich hier zeigen.

Andersherum kann es auch so sein, dass ein Von-sich-Webschieber vom Topf „Kinder“ nur 5 % übernimmt. Dann muss der Partner, ob er will oder nicht, die restlichen 95 % übernehmen. Er hat keine Wahl. Dazu muss er auch kein Magnet sein. Es reicht allein die Tatsache, dass der Partner nicht mehr übernimmt, sich sofort überfordert fühlt, in den Angriff oder die Opferhaltung geht.

Der Angepasste-Typ wird immer so viel Verantwortung nehmen, wie ihm der Partner zuspricht. Dies können einmal 90 % oder auch nur 10 % sein. Je nachdem, was der Partner oder die Situation gerade verlangt. Hier ist wenig Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit vorhanden, sondern eine große Wankelmütigkeit und viele Schwankungen. Auch das kann für den Partner anstrengend werden, da diese Verhalten nicht erwachsen, sondern den Ursprung in einer kindlichen Unsicherheit und Angst hat. 

Dieses Beispiel und die daraus entstehende Dynamik kann durch alle Themen einer Beziehung analysiert werden. 

Was können Paare gegen eine solche Dynamik machen?

Da es sich bei allen drei Typen unbewusst um Überlebens-Muster aus der eigenen Kindheit handelt, liegt der Schlüssel, wie immer, in einem selbst. In der ehrlichen Betrachtung der eigenen Geschichte und dem Erarbeiten eines Verständnisses für sich selbst ist der erste Schritt zum Durchbrechen dieser Dynamik zu finden. Erst wenn sich jeder Partner damit auseinandersetzt, warum er Verantwortung zu sich nimmt oder von sich weg schiebt, kann eine neue Dynamik entstehen. 

In der Paartherapie kann das auch im Miteinander geschehen. Die Partner lernen einander zu verstehen und als Team gemeinsam an den eigenen Themen zu arbeiten. Anstatt einander zu bekämpfen, kämpfen sie miteinander und füreinander. 

Erwachsener Umgang mit Verantwortung in der Beziehung

Wie oben im Beispiel schon beschrieben, ergeben sich manche Verantwortungs-Verteilungen durch äußere Umstände, eigene Wünsche und Bedürfnisse, eigene Kompetenzen und Fähigkeiten usw. Ich habe oben auch angedeutet, dass es nicht um das „ob“ geht, sondern „wie“ Verantwortung innerhalb einer Beziehung aufgeteilt wird. 

Wenn sich beide Partner ihren Kindheitsthemen und ihren Themen mit der Parentifizierung durch die Eltern gestellt haben, ist ein neuer Umgang mit dem Thema Verantwortung möglich. 

Ein erwachsener Umgang findet dann statt, wenn sich beide Partner gleichermaßen für alle Themen verantwortlich fühlen. Das bedeutet nicht, dass der Topf immer 50:50 aufgeteilt werden muss. Je nachdem welche Interessen und Stärken der eine oder der andere Partner hat, können sich hier verschiedene Verteilungen ergeben. Beide Partner wären aber grundsätzlich in der Lage zu jedem Zeitpunkt ohne Probleme und Umstände 100 % Verantwortung für jeden Themen-Topf der Beziehung zu tragen. Keiner wird mit einem Topf alleingelassen oder muss diesen Topf allein im Blick haben. Es gibt keine grundsätzliche Auf- oder Verteilung, sondern nur ein Miteinander – Hand in Hand.

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Annika Sengpiel

Paar- und Sexualtherapeutin in Karlsruhe.

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